138
St. Nikolai
St. Georgen
um 1430
Beschreibung
Altarretabel. Holz, geschnitzt und farbig gefasst, mit Tafelgemälden. Das Retabel wurde für den Hochaltar der Georgenkirche angefertigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es aus der zerstörten Georgenkirche nach St. Nikolai überführt, dort ist es in der Südvorhalle aufgestellt. Mit mehr als vier Metern Höhe und etwa zehn Metern Breite handelt es sich um eines der größten Altarretabel im Ostseeraum.1​ Es besteht aus einem Schrein, zwei Flügelpaaren, einer Predella und einem geschnitzten Maßwerkkamm, der auf dem Schrein und den inneren Flügeln aufliegt. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde eine weitere Predella angefertigt (549​), die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die ursprüngliche verdeckte.2
Der Erhalt des Retabels ist mehreren glücklichen Umständen zu verdanken. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden mehrmals Versuche unternommen, das mittelalterliche Retabel durch ein moderneres, dem Zeitgeschmack entsprechendes zu ersetzen, doch scheiterten diese unter anderem aus Geldmangel. Auch anstelle einer 1881 von dem Wismarer Maler Karl Michaelsen ausgeführten grundlegenden Überarbeitung war ursprünglich ein Ersatz angedacht. Den Zweiten Weltkrieg überstand das Retabel trotz Zerstörung der Kirche, da es unter dem Eindruck des Luftangriffs auf Lübeck im März 1942 von einer Ummauerung umgeben worden war.3
Nach der Entfernung der Ummauerung 1953 gelangte das Retabel in die Nikolaikirche. Dort waren die Verhältnisse ungünstig, sodass das Retabel zur Verhinderung größerer Schäden die folgenden Jahrzehnte hindurch denkmalpflegerisch betreut werden musste. Erst 1980 konnte man mit umfangreichen Restaurierungsmaßnahmen beginnen. Diese orientierten sich an den Ergebnissen der Arbeiten von 1881 und wurden 2007 abgeschlossen.4
Die nicht mehr erhaltene Malerei der geschlossenen Ansicht war schon Ende des 19. Jahrhunderts größtenteils zerstört. Crull schloss aus den damals noch sichtbaren Resten auf eine Darstellung von zwölf Figuren, von denen er noch elf identifizieren konnte: die Heiligen Drei Könige, Georg, Martin, Stephan, Elisabeth, Agnes, Martha, Simon und Judas. Im Nimbus der Martha entdeckte er Reste von Buchstaben. Auf den Flügeln waren mit Kreide Zahlen angebracht, darunter die Jahreszahlen 1637 und 1649.5
Die mittlere Wandlung (A​–C​) zeigt 16 Gemälde in zwei Registern, die durch ein Band mit Medaillons voneinander getrennt sind. Auf dem linken Flügel wird in vier Szenen das Martyrium des heiligen Georg erzählt; in dem weitgehend zerstörten linken oberen Feld ist ein einzelner Buchstabe erkennbar (A.1​), in dem ebenfalls weitgehend zerstörten linken unteren Feld zwei fragmentarisch erhaltene Schriftbänder (A.2​, A.3​). Die vier Szenen auf dem rechten Flügel zeigen Geschehnisse aus dem Leben des heiligen Martin, der ebenfalls zu den Patronen der Georgenkirche gehört.6​ In der Mitte auf der linken Seite vier Szenen aus der Passion Christi: oben links die Geißelung, rechts die Dornenkrönung, unten links die Kreuztragung, rechts die Kreuzigung mit einem vom Hauptmann ausgehenden Schriftband (B.1​); auf der rechten Seite oben links die Verkündigung an Maria mit einem Schriftband (B.2​), rechts die Anbetung des Jesuskindes durch Maria und die Engel, darüber Gottvater, in der rechten oberen Ecke schwebt ein Engel mit einem Schriftband (B.3​), unten links die Anbetung durch die Heiligen Drei Könige, auf der Kopfbedeckung eines der Könige B.4​, rechts die Darstellung im Tempel. Die insgesamt 20 Medaillons zwischen den Registern verteilen sich auf fünf Medaillons je Flügel und zeigen 16 Propheten und die vier Kirchenväter, alle mit Schriftbändern. Jede Fünfergruppe besteht aus vier Propheten und einem Kirchenvater in der Mitte, wobei die Propheten auf die über oder unter ihnen abgebildeten Szenen weisen, die Kirchenväter deuten auf ihr Schriftband. Von einigen dieser Inschriften ist nichts mehr lesbar, (zum Teil) noch lesbarer Text befindet sich in dem rechten Medaillon auf dem linken äußeren Flügel (C.1​), auf den inneren Flügeln (von links nach rechts C.2​, C.3​, C.4​, C.5​, C.6​, C.7​, C.8​, C.9​, C.10​, C.11​) und in dem zweiten Medaillon auf dem rechten äußeren Flügel (C.12​). Aus den Resten lässt sich erschließen, dass die Texte der Propheten auf die jeweilige Szene Bezug nahmen und die Texte der Kirchenväter die vier Bilder eines Flügels zusammenfassten.
Die geöffnete Ansicht des Retabels (D​–G​) zeigt in der Mitte des Schreins eine fast die gesamte Höhe einnehmende, geschnitzte Marienkrönung. Im Nimbus Christi D.1​; die Lilien, aus denen der Kreuznimbus gebildet ist, ragen an drei Stellen in die Inschrift. Im Nimbus der Maria D.2​. Unter der Marienkrönung eine Zone mit drei Figuren mit Spruchbändern: in der Mitte eine Stifterfigur (E.2​) mit einem Wappenschild, das eine Hausmarke (hwi/hm.hwi.georgen.hochaltar​) zeigt, in den Figuren zu den Seiten vermutete Crull König David (links, E.1​) und König Salomon (rechts, E.3​).7​ Rechts und links der Marienkrönung im Schrein und in den Flügeln in zwei Registern insgesamt 40 geschnitzte Heiligenfiguren. Die folgende Auflistung gibt die Reihenfolge wieder, die durch Ergänzung verlorener Attribute bei der Restaurierung 1881 entstand und 1980–2007 beibehalten wurde. Anhand von Vergleichen mit anderen Retabeln und von in den Skulpturen gefundenen und mit Namen beschrifteten Pergamentzetteln rekonstruierten Anna Elisabeth und Stephan Albrecht die ursprüngliche Reihenfolge.8​ Diese ist, sofern vom jetzigen Zustand abweichend, im Folgenden in Klammern vermerkt. In der oberen Reihe links der Marienkrönung von links nach rechts: Georg, Martin, Lukas mit einer Scheibe, auf der ein Stier und ein Schriftband (F.1​) zu sehen sind, Bartholomäus (Judas Thaddäus), Philippus (Simon), Matthäus, Judas Thaddäus (Philippus), Thomas (Jakobus d. J.), Andreas, Petrus; rechts der Marienkrönung von links nach rechts: Johannes Bapt. (Paulus), Paulus (Johannes Bapt.), Johannes Ev., Jakobus d. Ä., Simon (Bartholomäus), Jakobus d. J. (Thomas), Matthias, Markus mit einer Scheibe, auf der ein Löwe und ein Schriftband (F.2​) zu sehen sind, schließlich Stephanus und Elisabeth. In der unteren Reihe links der Marienkrönung von links nach rechts: Mauritius, Olav, Vinzenz, Laurentius, ein unidentifizierbarer Bischof, Leonhard, Ambrosius, Augustinus, Hieronymus, Gregor der Große. Die letzten vier halten Bücher, von denen das des Ambrosius und das des Hieronymus aufgeschlagen sind und die roten Versalien G.1​ und G.2​ gefolgt von angedeuteter Schrift zeigen. Rechts der Marienkrönung von links nach rechts: Anna Selbdritt, Maria Magdalena, Katharina von Alexandrien, Agathe (eine unidentifizierbare Heilige), Agnes, Ursula (eine unidentifizierbare Heilige), Dorothea, Barbara, eine unidentifizierbare Heilige, Birgitta oder Clara (Margarete).
Auf der bemalten Predella (H​) sind auf der linken Seite von links nach rechts die mit Schriftbändern versehenen Propheten Jeremias (H.1​) und Jesaja (H.2​) sowie die Könige Salomon (H.3​) und David (H.4​) dargestellt, in der Mitte Christus als Schmerzensmann mit der Inschrift H.5​ im Nimbus, auf der rechten Seite von links nach rechts die vier mit Tituli in den Nimben bezeichneten Kirchenväter Gregor (H.6​), Hieronymus (H.7​), Augustinus (H.8​) und Ambrosius (H.9​). Auch die Kirchenväter halten Schriftbänder, bei den ersten drei (H.10​, H.11​, H.12​) sind die Buchstaben nur noch andeutungsweise zu erkennen, wobei die Inschrift des Augustinus (H.12​) jedoch noch lesbar ist. Die Inschrift im Schriftband des Ambrosius (H.13​) ist gut erhalten.
Auch die Rückseite des Schreins (I​–R​) ist bemalt und zeigt in drei übereinander angeordneten Szenen „die Möglichkeit aus den Banden des Teufels gerettet zu werden und de[n] Weg dazu.“9​ Das obere der stark angegriffenen Gemälde zeigt von links nach rechts den Teufel (I​), einen Mann (J​) und einen Engel (K​), alle mit Spruchbändern. Teufel und Engel halten jeweils eine Kette, mit der sie den Mann zu sich zu ziehen versuchen. In der mittleren Szene sind wieder der Teufel (L​), ein Mann (M​) und ein Engel (N​) dargestellt, ganz rechts kniet ein Priester vor einem Altar (ohne Spruchband). Die untere Szene zeigt den Teufel (O​), einen Engel und einen vor einem Priester (P​) knienden Mann. Die Spruchbänder des Engels und des Mannes sind nicht mehr lesbar. Auf dem unteren Rahmen eine so gut wie nicht mehr lesbare Inschrift in zwei Zeilen (Q​). In der mittleren Szene mehrere Graffiti vom Beginn des 19. Jahrhunderts (R​).
An mehreren Stellen des Retabels sind unter abgeblätterter Farbe Reste von beschrifteten Pergamentblättern erkennbar.10
Das Kircheninventar von 1811 berichtet, dass sich „[h]inten an der Rückwand des Hochaltars [...] 4 alte elende Gemählde“ befanden.11​ Eines davon stammte aus dem Jahr 1596 (515​).
Die Nimbeninschriften D​, H.5​, H.6​, H.7​, H.8​ und H.9​ sind gepunzt, die übrigen Inschriften gemalt. Als Worttrenner stehen zumeist Quadrangel (bzw. Rauten in H.6​ und H.9​), in einigen der Nimbeninschriften (D​, H.7​, H.8​, H.9​) kreisförmig um einen Mittelpunkt angeordnete Punkte, der Worttrenner in A.2​ sternförmig.
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1
138
DI 103 (Wismar)
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2
hwi.georgen.hochaltar
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04.05.23, 18:59